Es bedarf keines Krankheitserregers, damit sich eine Krankheit ausbreitet. Falsche Lebensgewohnheiten tun es auch. Wenn inzwischen mehr als die Hälfte der Schulkinder eine Brille benötigen, um auch in der Ferne scharf zu sehen, ist kein Virus daran schuld. Aber auch nicht die Smartphones. Die Kinder sind einfach zu wenig im Freien!
Von Dr. Gerd Reuther
Nach der Öffnung Chinas stellte man in den 1990er Jahren dort fest, dass innerhalb weniger Jahre alle Schulkinder Sehhilfen wegen Kurzsichtigkeit benötigten. Im Reich der Mitte hatte seit Jahrhunderten niemand eine Brille benötigt. Schnell fiel der Verdacht auf den zu geringen Leseabstand der Kinder. Abstandsvorrichtungen auf den Schultischen sollten das Vorbücken der Kinder beim Lesen verhindern. Allein, es änderte sich nichts.
Um dieser Epidemie Einhalt zu gebieten, beschloss man schließlich amerikanische und australische Experten ins Land zu holen. 2007 stellten diese schließlich fest, dass ein zu langer Aufenthalt der Kinder in geschlossenen Räumen mit der vergleichsweise geringen Lichtintensität die Ursache war! Schulkinder verbrachten in China den ganzen Schulunterricht in geschlossenen Räumen und kamen auch in den Unterrichtspausen nicht nach draußen.
Zu geringe Lichtintensität
Da die Lichtintensität in Räumen 100-1000-fach geringer ist als im Freien, stellen sich unsere Pupillen in Gebäuden automatisch weit. Im Wachstumsalter führt diese Weitstellung der Pupillen zu einem Wachstumsreiz auf den Augapfel, sodass sich dessen Längsachse vergrößert. Der Lichteinfall aus der Ferne erreicht dann die Netzhautebene nicht mehr. Kurzsichtigkeit ist die Folge. Schon nach wenigen Jahren mit festgelegten Aufenthaltszeiten im Freien begann in China die Zahl der Brillenträger zu sinken.
Eigentlich war die Erkenntnis gar nicht neu. Hatte doch der deutsche Arzt Christoph Wilhelm Hufeland 1797 in seinem damaligen Bestseller „Die Kunst, das menschliche Leben zu verlängern“, schon geschrieben: „Die Hauptursache unserer Augenschwäche und Kurzsichtigkeit sind die vier Wände.“ Er hatte beobachtet, dass es Kurzsichtige nur in der Stadt gab, wo Kinder weit weniger Zeit im Freien zubrachten. Auch er selbst war stark kurzsichtig, weil er schon als Kind viel bei schlechten Lichtverhältnissen gelesen hatte.
Kinder müssen nach draußen
Das traditionelle Herausscheuchen der Schulkinder in den Pausenhof durch Lehrer hat also einen wichtigen Hintergrund. Es geht nicht nur um frische Luft, sondern um das Augenlicht für das ganze Leben. Wenn Kurzsichtigkeit in Familien gehäuft auftritt, ist es keine erblichen Veranlagung, sondern die gemeinsame Lebensweise mit zu langen Aufenthalten in Räumen. Nehmen Sie ihren Kindern nicht die elektronischen Geräte weg, sondern schicken sie sie nach draußen!
Dr. Gerd Reuter ist Bestsellerautor und ehemaliger Chefarzt. Er war der jüngste Chefarzt Deutschlands. Später gab er seinen Posten auf. Sein Beruf ließ ihn aber nicht los, er schrieb mehrere Bücher zum Thema Medizin und Gesundheit.