Die Geschichte lehrt uns, dass es zu jeder Zeit Persönlichkeiten gab, die gegen Unrecht aufstanden. In unseren Breitengraden schien jedoch seit einigen Jahrzehnten der Geist der Revolution zu verschwinden. Zumindest in die virtuelle Welt verlagert und dort mit der Zensurmaschinerie bekämpft. Daraus treten die Menschen aber nun hervor und gehen zu tausenden auf die Straße. Warum jetzt?
Eine Analyse von Elsa Mittmannsgruber
Obwohl wir von Unrecht überall umgeben sind, halten sich offene Proteste in Österreich sehr in Grenzen. Man hört meist nur die ewig alte Klage: „Niemand tut was!“ Sich selbst scheinen die Kläger dabei herauszunehmen, der Protest ist Sache „der anderen“. Die Liste der Ausreden ist lang, selbst nicht aktiv zu werden.
Zu ihrem Glück gibt es die Rebellen, die Nonkonformisten, die sich zur Wehr setzen. Wie schnell daraus eine Bewegung entstehen kann, zeigt die derzeitige Entwicklung. Wenige traten aus der Masse, trauten sich zu sprechen, alternative Medien trugen die Botschaften in die Welt und motivierten wieder andere, aus der Deckung zu gehen.
„Möglicherweise ist es die numerisch kleine Zahl an Nonkonformisten, die ausreicht, um gesellschaftliche Veränderungen anzustoßen“, meint der Sozialpsychologe Andreas Mojzisch von der Universität Göttingen.
Besonders glaubhaft und einflussreich sind die Rebellen für andere dann, wenn sie in der Mehrheit etabliert waren, sich dann aber von dieser inhaltlich absetzen und aus ihr heraustreten, weiß der Sozial- und Wirtschaftspsychologe Klaus Jonas von der Universität Zürich. So, wie es auch in den letzten Wochen geschehen ist.
Honorige Personen, wie Ärzte und Wissenschafter oder Promis, die sich gegen das Diktat der Regierungen und Massenmedien stellten, lösten eine Welle der Solidarität und des Ungehorsams aus.
Rebellen sind die Rentner
Drängt sich die Frage auf: Wer sind die Unruhestifter? Das Institut für Demokratieforschung der Universität Göttingen untersuchte Bürgerproteste in Deutschland. Wer sind die Protestierenden, woher kommen sie? Bei den Gesprächen mit 200 Aktivisten zeigte sich ein spannendes Bild. Demzufolge liegt unsere Zukunft nicht in der Hand der Jugend, sondern der Rentner.
Je mehr Zeit, desto mehr Engagement. Und diese Zeit nutzen der Studie zufolge gerade Pensionisten, Vorruheständler, Hausmänner, Teilzeitangestellte, Freiberufler, Pastoren, Schüler und Lehrer für Protest. Die wichtigste Eigenschaft: Kinderlosigkeit. „Eigene Kinder zu haben, gleicht einem Ausschlusskriterium für Engagement“, steht in der Forschungsarbeit geschrieben.
Das erklärt auch unter anderem, warum Protest hauptsächlich männlich ist. Immerhin 70 Prozent der befragten Aktiven sind männlich. Des Weiteren sind es überwiegend nicht die „kleinen Leute“ oder die Unterschicht, die protestieren.
Hoher Bildungsstand
Es sind die Hochgebildeten. „Menschen mit hohem Bildungsabschluss, geregeltem, meist ordentlichem Einkommen, die sozial gut vernetzt sind und eher anspruchsvollen Berufen nachgehen. Ihr Bildungsgrad ist enorm“, ist im Studienergebnis zu lesen. Ebenso zeigte sich, dass Bürgerprotestler meist auch keiner Konfession angehören.
Mehr als die Hälfte der Befragten ist konfessionslos. Am wenigsten vertreten waren Katholiken. Kritik an der Demokratie scheint ein großer gemeinsamer Nenner quer durch verschiedene Protestgruppen zu sein.
Ihnen zufolge hätten wir es mit einer „Scheindemokratie“ zu tun, Parteien und Politiker seien „Sammelstätten von Karriereristen und Postenjägern – abgehoben, inkompetent, weltfremd, von Medien und Lobbygruppen manipulierbar.
Wobei die Lobbyisten ohnehin als die entscheidenden Verfälscher des Volkswillens gelten und die Medien als deren willfährige Hofberichterstatter“, steht es in der Uni-Arbeit geschrieben.
Missstände schöngeredet
Warum nehmen Menschen an friedlichen Protesten teil und warum tun sie das aber so selten? Dazu fasste Julia C. Becker, Professorin für Sozialpsychologie an der Universität Osnabrück, einige wissenschaftliche Theorien zusammen und kam zum Ergebnis: Jeder Mensch gehört qua Geschlecht, Beruf, Ethnie, Religion etc. verschiedenen Gruppen an.
Erfährt eine davon Ungerechtigkeit, entscheidet die Person, ob sie, wenn möglich, die Gruppe verlässt oder aber aktiv wird. Letzteres geschieht jedoch kaum. Denn gibt es eine Möglichkeit für den individuellen Aufstieg oder einen Wechsel in eine attraktivere Gruppe, wird sie diesen dem Kampf für das Kollektiv vorziehen. Gibt es diese nicht, wird versucht, das eigene Schicksal schönzureden.
Durch ein Ohnmachtsgefühl werden Benachteiligungen einfach heruntergespielt. Oder man vergleicht sich mit Menschen, denen es noch schlechter geht und erhöht sich dadurch selbst. Oder man legitimiert soziale Ungerechtigkeit, weil „Menschen nicht nur motiviert sind, sich selbst und ihre Gruppe positiv zu bewerten, sondern auch das System, in dem sie leben.
Ist man der Ansicht, das System ist fair und die Welt gerecht, erhöht das die Lebenszufriedenheit und das Gefühl, das eigene Leben unter Kontrolle zu haben“, schreibt Becker. Hemmend wirken laut Julia Becker ebenso politische Entscheidungsträger, denn von ihnen „werden legitimierende Ideologien verbreitet, die darauf ausgerichtet sind, Proteste zu verhindern“.
Ein wunderbares Beispiel dafür ist die berühmte „Nazikeule“. In weiterer Folge führt das zur allgemeinen Akzeptanz von Missständen, weil sich diese Legitimation richtiggehend in der öffentlichen Meinung festsetzt.
Wann werden wir aktiv?
Um die Motivation zu steigern, an friedlichen Protesten teilzunehmen, gibt es drei Faktoren: Die Person muss sich mit der betroffenen Gruppe identifizieren. Das bedeutet, dass sie einen wichtigen Teil ihrer Persönlichkeit ausmacht und sie sich mit den anderen Personen darin eng verbunden fühlt.
Zudem muss das subjektiv empfundene Ausmaß der Ungerechtigkeit groß genug sein. Und zu guter Letzt muss die Gruppe überzeugt sein, auch wirklich etwas verändern zu können. Emotionen wie Ärger und Wut können motivierend wirken, dies erhöht sich mit dem Maße, in dem sich der Aktivist mit der Gruppe identifiziert.
Eine starke Identifikation wiederum bekräftigt den Glauben, etwas zu erreichen.
Betrachtet man die derzeitige Situation, erkennt man schnell, warum es zu offenen Protesten kommt: Die Politik zerstörte Existenzen, die Legitimation dafür wurde von vielen als falsches Spiel enttarnt.
Protest bleibt die einzige Möglichkeit. Mit den „großen Verlierern“ hat sich eine mächtige, neue Gruppe gebildet, die täglich größer wird. Ihr gemeinsames Ziel ist es, gegen die Maßnahmen der Regierung aufzustehen.
Sie fordern Gerechtigkeit für sich und ihre Familien. Ihre Wut befeuert die Dynamik und stärkt den Zusammenhalt. Wiederholt sich die Geschichte? Heißt es nun wieder: das Volk gegen die Eliten? Wir werden sehen.