Während Unternehmen im Insolvenzverfahren nur die Konkursquote zugestanden wird, müssen Schulden bei Sozialversicherungsträgern „bis zum Sankt Nimmerleinstag“ zurückgezahlt werden. 2015 gab ein Gericht einem Schuldner recht, erklärte eine Aufrechnung für unrechtmäßig. Doch dann änderte sich die Praxis.
Ein Bericht von Philipp Fehrerberger
Man schaffte danach kurzerhand einfach die Bescheid-Pflicht für solche Pfändungen ab. Und ohne Bescheid kann sich ein Betroffener de facto nicht wehren…
Überdurchschnittlich hohe Abgaben
Konkret geregelt ist die Bestimmung in § 103 des Allgemeinen Sozialversicherungsgesetzes (ASVG). Dieser Paragraph ermöglicht es den Sozialversicherungsanstalten, selbst nach einem Privatkonkurs den Schuldner weiter zu pfänden.
Zumindest so lange, bis dieser 50 Prozent des vorhandenen Rückstandes abgestottert hat – aber zuzüglich Zinsen, versteht sich. In der Praxis haben solche Schuldner deshalb keine realistische Chance mehr, jemals aus dem Schuldenloch zu entfliehen. Nicht selten geht es dabei um mehrere zehntausend Euro, denn die Abgaben für Unternehmer sind in Österreich überdurchschnittlich hoch.
“Zerstörend und unsozial”
Jetzt meldete sich ein besorgter Leser beim „Wochenblick“. Er nennt den Schulden-Paragraph „zerstörend und unsozial“ und sagt: Es gibt unzählige Betroffene, die von Sozialversicherungsanstalten in einer „ewigen Knechtschaft“ gehalten werden würden.

Urteil gab Schuldner Recht
Konkret wurde dem „Wochenblick“ ein Urteil des Landesgerichts Salzburg von Oktober 2015 zugespielt, das die Aufrechnung solcher Schulden verhinderte und der Klage eines ehemaligen Unternehmers stattgab. Die Sozialversicherungsanstalt der gewerblichen Wirtschaft wollte von dessen Invaliditätspension über 30.000 Euro pfänden.
Offenbar wechselte man aufgrund dieses Urteils die Methodik. Die Pflicht für Sozialversicherungsträger, bei einer Pfändung einen Bescheid auszustellen, wurde abgeschafft. Und ohne einen Bescheid, der sich auf die Pfändung beruft, kann ein Betroffener keine Rechtsmittel erheben.
Betroffene können sich schwer wehren
Und tatsächlich: Ein Urteil des Landesgerichts Linz von September 2017 zeigt, die Klage eines Betroffenen wurde mangels Bescheid als unzulässig zurückgewiesen. Auch der folgende Rekurs gegen den Beschluss brachte – wie zu erwarten – nichts.
Eine denkbare Möglichkeit, sich rechtlich zu wehren, wäre die seit 1. Jänner 2015 mögliche “Gesetzesbeschwerde” (“Parteienantrag auf Normenkontrolle”) beim Verfassungsgerichtshof (VfGH). Während es früher deutlich schwieriger war zum VfGH gelangen, ist dies jetzt auch ab der ersten Instanz möglich.

5.000 Konkurse jährlich
Laut Kreditschutzverband kam es im vergangenen Jahr 2017 zu insgesamt 5.079 Gesamtinsolvenzen. Oftmals handelt es sich bei einem nicht unbedeutenden Teil dieser Rückstände um Schulden bei Sozialversicherungsanstalten.
Auf „Wochenblick“-Anfrage gibt Insolvenzexperte Dr. Hans-Georg Kantner vom Kreditschutzverband (KSV) einen Einblick, wie sich die Schuldenlage für Unternehmer, die in Konkurs schlittern, in der Praxis gestaltet. Eine offizielle Statistik für die Schulden-Aufteilung gibt es nicht, aber Expertenmeinungen, so Kantner.
Schulden beim Staat
Bei einer Gesamtbetrachtung aller Unternehmen in Österreich bestehen bei Konkurs etwa die Hälfte der Verbindlichkeiten aus Bankschulden, ein Viertel aus Lieferantenschulden und ein Viertel aus Schulden bei der öffentlichen Hand. Diese Zahlen divergieren aber je nach Unternehmen stark – besonders bei kleinen Einzelunternehmen sind die Rückstände bei Sozialverischerungsträgern oft deutlich höher.
Kantner erklärt weiter, dass 2010 das Zustimmungserfordernis bei Insolvenzen von 75 Prozent auf 50 Prozent gesenkt wurde. Davor mussten mindestens 75 Prozent aller Gläubiger der Insolvenz zustimmen. Weil es Fälle gab, wo die Sozialversicherungen mehr als 25,1 Prozent der Verbindlichkeiten als Forderungen stellten, wurde ihnen diese so genannte Sperrminorität – also die Möglichkeit, mit Nichtzustimmung den Konkurs zu verhindern – aus der Hand genommen.

Massive Privilegien
Die letzte Änderung des Insolvenzrechts wurde 2017 durchgeführt. Trotz der massiven Auswirkungen des § 103 ASVG auf Privatinsolvenzen und der höchst fragwürdigen Privilegien für Sozialversicherungsträger ist das Gesetz nach wie vor in Kraft.
Aus Insiderkreisen ist zu vernehmen, dass im Zuge der Zusammenlegung der Sozialversicherungsanstalten auch an eine Überarbeitung des ASVG gedacht ist. Derzeit steht aber eine Änderung nicht in Aussicht.